Fachtagung "Gegen das Vergessen" am 15.11.2019
Eben-Ezer setzt die Erinnerungsarbeit fort. Nach der Aufarbeitung der Lebensläufe von über dreißig Bewohner*innen, die Ende der 1930er Jahre dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind, wurde nun die Biographie des langjährigen Anstaltsleiters Herbert Müller fertig gestellt. Der Pädagoge hat von 1928 bis 1968 in Eben-Ezer gewirkt und war ab 1939 Leiter der Einrichtung. Die Biographie erhellt sein fortschrittliches pädagogisches Wirken ebenso wie seine von Anpassung gekennzeichnete Rolle während des NS-Regimes und skizziert die ersten Jahre der jungen Bundesrepublik.
Im Rahmen eines Fachtages am 15. November wurde die Biographie der Öffentlichkeit vorgestellt. Außerdem zeigten Studierende der Fachhochschule der Diakonie Bethel einen Film über die Opfer der Zwangssterilisation. Der Film ist das Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Thema im Rahmen von zwei Seminaren an der Fachhochschule. Im Fokus des Films steht die Geschichte von Wilhelm Nolting, der sowohl Opfer der Eugenik als auch – wohl aufgrund von Spätfolgen der Sterilisierung - der „Euthanasie“ wurde, weil er nicht mehr arbeitsfähig war.
Der Sonderpädagoge im Ruhestand Heinrich Bax hat im Archiv von Eben-Ezer und darüber hinaus recherchiert und 87 Menschen aus Eben-Ezer, die während des NS Regimes als „fortpflanzungsgefährlich“ eingestuft und zwangssterilisiert wurden, mit Biographien gewürdigt. Er stellte seine Arbeitsergebnisse exemplarisch während des Fachtages vor. Die vierstündige Veranstaltung – eine Mittagspause inbegriffen - war gut besucht. Der Vorstand Pastor Dr. Bartolt Haase ging in seiner Begrüßung besonders auf das Schicksal der Opfer der Eugenik ein. „Diese Menschen hatten keine Lobby, keinen Fürsprecher. Das ist auch ein Versäumnis der Kirche.“ Insbesondere junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren wurden sterilisiert. Viele Frauen haben den Eingriff nicht überlebt. „Sie sind während oder nach der Operation gestorben“, so Bax. Sein Vortrag erzeugte Betroffenheit im Plenum. Gut, dass eine längere Mittagspause folgte, in der man sich über das Gehörte austauschen konnte.
Nach der Pause stellte der Historiker und Autor Dr. Frank Konersmann die Biographie von Herbert Müller vor. Knapp zwei Jahre hat er an dem Buch „Der Heilpädagoge Herbert Müller in Eben-Ezer, Biographie eines Schul- und Anstaltsleiters (1906 – 1968) gearbeitet. Das umfangreiche und gut geführte Archiv der Stiftung leistete ihm dabei gute Dienste. Auch mit Zeitzeugen hat er gesprochen. Herausgekommen ist ein differenziertes und sehr detailgetreues Werk, das den ambivalenten Charakter von Müller sehr gut darstellt. Sowohl einfühlsam und fürsorglich gegenüber den Bewohner*innen wird er beschrieben. Aber auch offen gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung, der er im Alltag von Eben-Ezer immer mehr Einfluss gewährte. So stellte Eben-Ezer unter Müllers Führung weder Zwangssterilisation noch den Abtransport von Bewohnern in Einrichtungen, die sie nicht mehr lebend verlassen sollten, in Frage. Zusammen mit seiner Frau, einer Lehrerin, leitete Müller Eben-Ezer auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter bis zu seinem plötzlichen Herztod im Alter von 62 Jahren. Die Biographie ist im Buchhandel erhältlich und kostet 19,90 Euro.
Gedenkgottesdienst am Buß- und Bettag, 20. November 2019
Am Buß- und Bettag, 20. November, besuchte Diakonie-Präsident Ulrich Lilie die Stiftung Eben-Ezer. Pfarrer Ulrich Lilie ist seit 2014 Präsident der Diakonie Deutschland, seit 2017 Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung und seit 2018 Vizepräsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW). 2018 hat er die Kampagne UNERHÖRT!, die u.a. mit Plakaten für eine offene Gesellschaft wirbt, ins Leben gerufen. Ulrich Lilie unterhält auch den Blog „Auf ein Wort“. Lilie hatte sich einen halben Tag Zeit genommen und startete den Besuch mit einer Hospitation in der Ostschule, der inklusiven Grundschule der Stiftung. Er erlebte „eine zauberhafte Schulstunde. Ja, eine Sternstunde der Inklusion“, wie er später in einer mittäglichen Tischrede zum Ausdruck brachte. Wie Kinder mit und ohne Behinderungen sich gegenseitig unterstützten, habe ihn sehr beeindruckt. Danach stand der Besuch der Wohnanlage Alt Eben-Ezer auf dem Programm. Hier leben Klient*innen mit hohem Pflegebedarf. „Mit wieviel Herzblut und Professionalität die Mitarbeiter*innen hier handeln, berührt mich sehr“, stellte Lilie anerkennend fest. Zum Abschluss besuchte eine Gruppe von Klient*innen und Mitarbeitenden zusammen mit dem Präsidenten die Stele zum Gedenken an die Opfer von „Euthanasie“ des Nationalsozialismus, die vor der Kirche von Alt Eben-Ezer steht.
Am Abend des Buß- und Bettages fand in der Kapelle Alt Eben-Ezer ein gut besuchter Gedenkgottesdienst für die Opfer der „Euthanasie“ aus Eben-Ezer statt. Unter den Besuchern begrüßte Pastor Dr. Bartolt Haase auch den Bürgermeister der Alten Hansestadt Lemgo Dr. Reiner Austermann. Udo Zippel, Kaufmännischer Vorstand und Christine Schulze, Klientin der Stiftung, verlasen im Wechsel die Namen der 36 Personen, die am 8. April 1937 von Eben-Ezer nach die Provinzial- und Heilanstalt Warstein verlegt wurden und von dort über Zwischenanstalten weiter verteilt und ermordet wurden. Ihre Biographien sind im Digitalen Gedenkbuch festgehalten. Pastor Dr. Bartolt Haase betonte, dass man mit diesem Gottesdienst auch der Menschen und Gewaltopfer gedenke, deren Namen und Biographien nicht bekannt seien. Kirchenrat Tobias Treseler hielt die Predigt und warnte vor menschenverachtenden Grenzüberschreitungen in unserer heutigen Gesellschaft. Was vor einigen Jahren noch unsagbar gewesen sei, werde durch Rechtspopulisten in den Rang zu tolerierender Meinungsäußerung zu holen versucht. Dem müsse man entschieden entgegen treten. Zwei Kinder aus dem Wohnverbund für Kinder und Jugendliche der Stiftung verteilten Kerzen an die Besucherinnen und Besucher. Anschließend versammelte sich die Gemeinde an der Gedenkstele mit den Namen der 36 ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner zu einem stillen Gedenken.