Lesung mit Heinrich Bax im Rathaus Lemgo erinnert an die Opfer des NS-Regimes
Gedankengut war schon früh in der Welt
Erinnern! Das Ausrufezeichen ist hier mehr als angebracht. Gerade in der jetzigen Zeit, in der die rechten Parteien wieder mehr Zuspruch erhalten und die Menschen in Lemgo und ganz Deutschland dagegen auf die Straße gehen, ist es so wichtig, dass die Menschen sich an die Gräueltaten des Naziregimes erinnern. Die Veranstaltung „Zwangssterilisation in Lippe und „Euthanasie“ während der NS-Zeit in den Lemgoer Heilanstalten Eben-Ezer und Lindenhaus“, Lesung und Gespräch auf Grundlage des gleichnamigen Buches von Heinrich Bax traf daher auf großes Interesse. Die Stuhlreihen des großen Sitzungssaals im Lemgoer Rathaus waren bis auf den letzten Platz besetzt. Eingeladen hatte der Arbeitskreis 9. November Lemgo, der mit dieser Veranstaltung Bezug auf den „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ nehmen wollte, der seit 1996 stets am 27. Januar - dem Tag der Befreiung des Vernichtungslagers in Auschwitz – stattfindet. Der pensionierte Sonderpädagoge Heinrich Bax hat rund zehn Jahre für das Buch recherchiert. Er hatte unter anderem Zugang zum Archiv der Stiftung Eben-Ezer und kam zu der erschütternden Erkenntnis: „Junge Menschen, die von Wohlfahrtsverbänden zu Eben-Ezer geschickt wurden, hatten keine Chance.“ Sie wurden in der NS-Zeit zwangssterilisiert. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ trat schon kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Kraft und macht die Ausmaße des damals aufkeimenden Rassenwahns deutlich. An erster Stelle des sogenannten „unwerten Lebens“ stand angeborener Schwachsinn, aber auch körperliche Missbildungen oder schwerer Alkoholismus in der Familie konnten zur Sterilisation führen. „Das Gedankengut gab es schon vor 1933“, mahnte Lemgos Bürgermeister Markus Baier in seinem Grußwort. Es sei richtig, dass der Arbeitskreis 9. November dieser Opfergruppe Raum gebe und gerade in dieser Zeit die Veranstaltung initiiert habe. Der Geschäftsführer von Eben-Ezer Falko Heise warnte vor der Bedrohung der Vielfalt unserer Gesellschaft durch rechte Strömungen und verwies auf die besondere Erinnerungskultur, die in der Stiftung bezüglich der NS-Vergangenheit gepflegt werde. Das Digitale Gedenkbuch Euthanasie, die Gedächtnis-Stele in Alt Eben-Ezer, regelmäßige Veranstaltungen, in denen die Namen der Opfer verlesen werden, und eben jenes Buch von Heinrich Bax – all das erinnere an diese dunklen Zeiten, so Falko Heise.
In Deutschland wurden während der NS-Zeit nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ 350 000 bis 400 000 Menschen zwangssterilisiert. In Eben-Ezer waren es nach den Recherchen von Heinrich Bax 86 junge Männer und Frauen. „Der Anstaltsarzt von Eben-Ezer Dr. Fiebig unterstützte und begrüßte das Gesetz von ganzem Herzen“, so Heinrich Bax. Auch der Volks- und Hilfsschullehrer Herbert Müller (1906−1968), der ab 1932 als Leiter der Anstaltsschule tätig war, befürwortete das Gesetz und arbeitete Hand in Hand mit Dr. Fiebig zusammen. So kam es auch, dass der Schüler Walter S. von Herbert Müller im Schulbericht als „debil und Psychopath“ eingestuft wurde, obwohl „seine Leistungen im Großen und Ganzen gut“ gewesen seien, so ist es im selben Schulbericht an anderer Stelle zu lesen. Dr. Frank Konersmann, Historiker und Archivar der Stiftung Eben-Ezer, fügte an, dass Herbert Müller mindestens zwei Gesichter gehabt habe. „Er war durchaus empathisch und hat die Kinder gefördert.“ Dr. Konersmann hat eine Biografie über Herbert Müller geschrieben. Er steht seit 2011 im Austausch mit Heinrich Bax und moderierte die Veranstaltung. Anstaltsarzt Dr. Fiebig attestierte auf Grundlage der Einschätzung von Müller bei dem Jungen „angeborenen Schwachsinn“ und beantragte die Sterilisation beim Erbgesundheitsgericht. Die Sterilisation erfolgte bei ihm im Alter von 14 Jahren nach seiner Konfirmation.
Anders als bei der Zwangssterilisation stellt sich die Quellenlage bei der Euthanasie, also der gezielten Tötung von Menschen, dar. Weder in Eben-Ezer noch im Lindenhaus wurden nach Recherchen von Heinrich Bax und Dr. Frank Konersmann entsprechende Anträge gestellt oder Maßnahmen ergriffen. Allerdings wurden, so zeigte es Heinrich Bax auf, 62 Bewohnerinnen und Bewohner aus Eben-Ezer 1937 in die Heilanstalt Warstein verlegt. Laut Opferlisten verhungerten mindestens 37 von ihnen oder sie wurden in der „Tötungsanstalt“ Hadamar ermordet.
An den Vortrag schloss sich eine lebhafte Diskussion an. Interessant war dabei auch die Anmerkung einer Teilnehmerin: Die Einstellung, dass Menschen mit geistiger Behinderung keine Kinder bekommen sollten, sei nach wie vor in großen Teilen der Gesellschaft vorhanden. Am Rande: Das Gesetz gibt es immer noch. Es wurde zweimal durch den deutschen Bundestag geächtet. „Was auch immer das bedeuten mag“, so Heinrich Bax.
Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung, die unter dem Motto „Lesung – Gespräch – Musik“ stand von der Sängerin Jessika Kaibel und Roman Balatel am Akkordeon, die an der Hochschule für Musik in Detmold studieren. Vorgetragen wurden stimmungsvoll-melancholische Stücke, die das Thema des Abends eindrucksvoll unterstrichen, zum Beispiel „Youkali“ von Kurt Weil und „Wir weinten keine Tränen“, ein Lied zum Gedenken an die Opfer von Auschwitz.